Wenn der Januar der Schlagermonat war, dann gilt es im Februar, die ersten ganz großen Indiepop-Highlights des Jahres zu feiern. Und dabei reden wir nicht nur von internationalen psychedelischen Großtaten aus den Häusern MGMT oder Grandaddy, wir kehren auch und gerade vor unserer eigenen Haustür. Denn in der Groß- und Hauptstadt Berlin wird wieder lautstark und zu treibenden Beats geflüstert und an Werken für kommende Jahresbestenlisten geschraubt. Olli Schulz entdeckt wieder den Gossen- und Goschn-Poeten in sich und die Giant Rooks zeigen, dass ihr international gefeiertes Albumdebüt vor knapp vier Jahren keine Eintagsfliege war. Und dann wäre da (mal wieder) diese Band mit österreichischen Wurzeln, die gefühlt mit jedem ihrer alle Jubeljahre erscheinenden Alben Jubel und Begeisterung auslöst. Wir fangen schon mal mit dem Schreiben der nächsten Bestenliste an. Ganz oben: Ja, Panik.
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Das also wird aus „hoffnungsvollen“ deutschen Newcomern wie den Giant Rooks. Vor knapp fünf Jahren wurde die Band um die Cousins Frederik Rabe und Finn Schwieters mit Preisen für Popkultur und Förderpreisen ausgezeichnet, zu einem Zeitpunkt, als sie auch schon fünf Jahre lang musikalisch unterwegs waren. Aber es stimmt ja: Das Albumdebüt „Rookery“ erschien erst ein Jahr später (2020; und konnte in Deutschland immerhin auf Platz drei charten) und erst in der Folge begann man nicht nur im Inland aufzuhorchen. Indiepop von so internationalem Format hat man nur alle Jubeljahre mal vorzuweisen. Zuletzt vielleicht mit Milky Chance, die sie 2021 auch auf ihrer US-Tour begleiten durften. Jetzt also – die Antwort auf die eingangs gestellte Frage – schon jemand von den „Großen“ mit einem Album, das gleich im ersten Song die Beatles zitieren und auch sonst recht üppige musikalische Brötchen backen darf.
Ja, Panik sind eine der deutschsprachigen Bands, auf die sich wirklich jeder einigen kann. Wobei deutschsprachig (natürlich ebenso) Österreich meint. Schließlich ist es die kleine Alpenrepublik, die derzeit mit indierockigen Bandtalenten eher protzt, statt an ihnen zu sparen. Siehe Paul’s Jets, Bilderbuch, The Leftovers oder eben Ja, Panik. Wobei auch das nur halb stimmt. Weil „Die Gruppe“ ja längst in Berlin residiert und wir deshalb auch ein kleines bisschen stolz sein dürfen auf diese außerordentliche Mischung aus intellektueller Rebellion, musikalischem Sturm und Drang und angloalemannischer Lyrikdichte. Nach den rund zehn Jahre alten (und älteren) Großwürfen „Libertatia“ (2014) und „DMD KIU LIDT“ (2011) war schon „Die Gruppe“ vor drei Jahren ein meisterhafter Rebound, der mit „Don’t Play With The Rich Kids“ noch einmal getoppt wird. Wer Titel wie „Die Angst des Archivars vor der Sichtung der Welt“ zu seinem Songportfolio zählt, ist sich unserer Bewunderung ohnehin sicher …
Grandaddy sind zusammen mit den Flaming Lips, Mercury Rev und den im Februar ebenfalls reüssierenden MGMT eine jener Bands, deren Sound einen sofort einhüllt wie eine wärmende Decke aus Synthesizern und traumverloren schönen Melodien. Insbesondere im Falle des Projekts von Jason Lytle gilt es allerdings viel Geduld aufzubringen. Nach dem glorreichen Triptychon aus „Under the Western Freeway“, „The Sophtware Slump“ und „Sumday“ sowie der darauffolgenden „Just Like the Fambly Cat“ (1997–2006) war über zehn Jahre Funkstille, bevor man sich mit „Last Place“ zurückmeldete. Jetzt hat es noch einmal rund sieben Jahre gedauert. Aber „Blu Wav“ ist jede dabei verbrachte Minute kontemplativer Stille wert. Irgendwo zwischen repetitiver Bluegrass-Lyrik und sich öffnenden Synthesizer-Himmeln ist das Album wie ein musikalisches Sternenkleid, das uns in Ewigkeit und Sphärenträume hüllt. Klingt plakativ, trifft den Breitwandsound der Kalifornier aber ziemlich genau. Wir treffen uns am „Watercooler“!
Die gar nicht leisen Hauptstädter sind so etwas wie das Berliner Gegenstück zu Deichkind: eine irrwitzige Kreuzung aus Nina Hagen, Mia, Kirmes-Techno und Punkrock, die neben ihrer Berliner Schnauze auch den Spaß am Partymachen stolz vor sich herträgt. Nachdem sie vor rund vier Jahren mit vielen „Trips & Ticks“ erstmals auch in die deutschen Albumcharts Einzug halten konnten, zeigen sie sich 21 Jahre nach ihrer Gründung endlich als die unreifen Volljährigen, die sie nun sind. Als solche hat man nicht nur mit dem „Ich“, sondern auch mit dem „Über-Icke“ zu kämpfen. Und mit Widerständen im Arbeitsalltag, auf die man uns im vergangenen Jahr die Antwort entgegengeballert hat: „Ich kündige“! Auch der Rest der insgesamt 14 Tracks präsentiert uns Fragen, Antworten und Beleidigungen, die wir uns so auch nur aus Berlin erwarten. In diesem Sinne hat da nicht nur Sigmund seine Freud dran.
Unsere heiß geliebten Chef-Psychedeliker vom oberen MGMT lassen sich Zeit – und dürfen das auch. Schließlich war in Zeiten zunehmenden gesellschaftlichen Wahnsinns kaum ein Entkommen vor den Klängen ihres „Little Dark Age“, mit dem sie ab 2018 unser beginnendes neues Mittelalter (oder die Steinzeit?) besungen haben. Und „Kids“ ist seit dem Erstling „Oracular Spectacular“ seit bald 20 Jahren sowieso und permanent in unser aller Ohren. Jetzt also ist es – nach der zwischenzeitlichen Veröffentlichung eines Live Gigs aus dem New Yorker Guggenheim-Museum vom 11.11.11 – endlich wieder so weit: Mit „Loss of Life“ erscheint das fünfte Studioalbum von Andrew VanWyngarden und Ben Goldwasser, abgemischt (mal wieder) von Dave Fridmann, der auch die tonal vergleichbaren Flaming Lips mitzuverantworten hat. Und was sollen wir sagen: Im Angesicht der hier immer wieder aufscheinenden nahenden Apokalypse geben sich die beiden nicht nur erstaunlich humorvoll, sondern auch sehr zugänglich. Da warten wir auch gerne ein bisschen länger …
Ob mit seinem Hund Marie (zwischen 2003 und 2006) oder ganz allein mit sich und seiner Gitarre (2009 bis – vorerst – 2018): Als Singer-Songwriter konnte Olli Schulz immer wieder zeigen, dass er eigentlich sehr viel mehr ist als nur der Sidekick eines Joko, eines Klaas oder eines Böhmermann, mit dem zusammen er in den letzten Jahren ja vor allem als Podcaster von sich reden machte. Aber jede Spaßepisode muss mal zu ihrem Ende kommen, jede im Verlauf von bald sechs Jahren angestaute Innerlichkeit nach außen drängen. Weshalb ziemlich genau lange sechs Jahre nach „Scheiß Leben, gut erzählt“ ein wie guter Rotwein gereifter Olli Schulz uns „Vom Rand der Zeit“ grüßt. Schließlich wird es auch „Zeit, dass unser Herz wieder blüht, einfach so“, wir uns ein bisschen treiben lassen zu besinnlichem Songwriterpop, der die traurigen Clowns feiert, mit denen sich ein Olli Schulz offenbar so gut identifiziert. Darauf ein, zwei oder drei Sambuca und ein bis zwei verdrückte Tränchen in einer schummrigen Bar, in der die Menschen sich gegenseitig schön trinken. Muss man lieben!