Wir geben es ja zu: Wir haben starke Schlagerschlagseite im Musik-August. Was aber auch einfach daran liegt, dass internationale Top-Acts gerade zumeist auf Stadion- und Festivaltour sind, EM und Olympische Spiele viele Kapazitäten binden und ohnehin erst September und Oktober als Startdatum für die ganz großen Würfe gelten dürften. Genug Platz also für heimische Gewächse, sich in den sommerlichen Albumcharts festzusetzen – bevor die Granden der Marke Gilmour, Vier (Die Fantastischen) und Coldplay demnächst zum Überholen ansetzen. Bis es so weit ist, geben sich Schlagertitanen (Amigos), und Popschlagerkids (Roselly, Philippi) Klinge bzw. Mikro in die Hand. Und erschrecken nur ganz kurz, wenn die irischen Krawallmacher von Fontaines D.C. mal eben um die Ecke bellen. Wir wünschen viel Spaß beim Entdecken.
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• Amigos• Eric Philippi
• Anna Ermakova
• Kathy Kelly & Jay Alexander
• Ramon Roselly
• Fontaines D.C.
Stimmen der Nacht
Wer kennt sie nicht, die nagenden inneren Stimmen, die einen in der Nacht um den Schlaf bringen können. Wahrscheinlich haben sie auch den Ulrich-Brüder wachgehalten, nachdem es „Atlantis wird leben“ im vergangenen Jahr (nach 14 Nummer-1-Hits“) erstmals ganz knapp nicht gelang, die Chartspitze zu erobern. Aber kein Grund für ein Trauma – allenfalls für kosmetische Änderungen, die allerdings nicht den Sound betreffen. Erstmals seit einer gefühlten Ewigkeit veröffentlichen die Amigos ihr neues Album nicht zu Beginn der Sommerferienzeit, sondern an deren Ende. Möglicherweise in der Hoffnung, nach EM und Olympia und Urlaubsreisen wieder vollumfänglich auf ihre riesige Fanbasis zurückgreifen zu können. Die dürfte sich auch mit „Stimmen der Nacht“ abgeholt fühlen. Das neue Album sieht fast genauso aus wie die vorherigen und es bietet die gleiche Mischung aus Uptempo, balladesk und schunkeltauglich, die zuvor schon 14 mal für die Chartkrone gereicht hat. Sie sei ihnen ja vergönnt…
Ja was denn nun? Nachdem seine künftige Ehefrau, im Juni haben sich Eric Philippi und Schlagerikone Michelle die Hochzeit versprochen, gerade erst ihr letztes Album veröffentlicht und zuvor „Das wars für mich“ verkündet hatte, steuert Eric Philippi mit „Wir bleiben noch“ genau in die entgegengesetzte Richtung. Worüber sich Fans des schockverliebten Schlagernewcomers natürlich freuen werden. Einer muss schließlich die Brötchen nach Hause bringen – und wenn Michelle das zumindest nicht mehr singenderweise tun will, dann ist nun eben der Eric dran. Und natürlich liefert der smarte Youngster. Auch sein zweites Album liefert vergleichsweise unverbraucht klingenden Schlagerpop, der nie einen Zweifel daran lässt, dass er bei den besten (und bei seiner besseren Hälfte) gelernt hat. Für ihn jedenfalls war es das noch nicht. Im Gegenteil. Hier geht die Reise erst richtig los…
Die Geschichte von Anna Ermakova könnte faszinierender kaum sein. Als Ergebnis der berühmten Besenkammer-Affäre von Boris Becker musste sie lange um Anerkennung kämpfen, bevor sie mit 14 selbstbewusst aus dem Schatten der Yellowpress-Affäre gestiegen und auf den Laufsteg der Berliner Fashion-Week getreten ist. Da war sie erst 14. Acht Jahre später stellte sei bei „Let’s Dance“ neue Rekorde auf. Und emanzipierte sich endgültig von ihrem krisengeplagten Daddy. Der neueste Streich: Eine Coverversion des (auch von Linkin Park einst adaptierten) The Who-Songs „Behind Blue Eyes“, die das Enigma Anna Ermakova ziemlich gut auf den Punkt bringt. Das zugehörige Albumdebüt soll nun letzte Zweifel daran beseitigen, dass sie nun auch noch singen kann. Die findige Produktion und Songauswahl sorgt jedenfalls dafür, dass Ermakova auch hier eine ausnehmend gute Figur macht.
Als Teil von Marshall & Alexander hat der Pforzheimer Opernsänger über 15 Jahre lang insbesondere im deutschen Schlagerzirkus für Aufsehen gesorgt, solo hat er im Anschluss sogar die deutschen Klassikcharts „gerockt“. Jetzt ist er bereits zum zweiten Mal an der Seite von Kelly Family-Frontfrau Kathy zu hören und zu sehen. Mit der er für „Glaub an Dich“ eine bunte Mischung aus großen Welterfolgen, klassisch instrumentierten Stücken und elegischen Hymnen zum Besten geben darf. Dabei profitiert die musikalisch breit gefächerte Reise von den unverkennbaren Stimmen der beiden, von ihrer Leidenschaft für die Musik und von der unüberhörbaren Chemie untereinander. Sollte es je einen Zweifel daran gegeben haben, dass das Kelly-Alexander-Projekt funktioniert, mit „Glaub an Dich“ sollte er endgültig ausgeräumt werden.
Klingt nach „Wir Kinder vom Bahnhofzoo“, ist aber in Wirklichkeit Album Nummer vier von jemandem, der ohne Erfolg nicht mehr zu können scheint: Ramon Roselly. Das ehemalige Zirkuskind hat seit seinem DSDS-Karrierestart vor vier Jahren einen echten Traumstart hingelegt und insbesondere mit „Herzenssache“ (2020, Platz 2) und „Lieblingsmomente“ (2021, Platz 2) ganz oben am Charttreppchen schnuppern dürfen. Da soll es auch wieder hingehen, nachdem „Träume leben“ vor zwei Jahren etwas hinter den Erwartungen zurückgeblieben war. „Süchtig“, das meint für Roselly vor allem die Sehnsucht. Die Sehnsucht nach Liebe, nach Ferne, vielleicht auch nach der Album-Nummer-Eins, die ihm bislang verwehrt geblieben ist. Aber vielleicht richten es ja die Schlager- und Popschlager-Spezialisten von Telamo, in deren stall Roselly mit diesem Album gewechselt ist. Zumal sich der junge Sänger hier musikalisch vielseitiger zeigen darf als je zuvor.
Romance
Schon für „Skinty Fia“ verließen die irischen Post-Punker vertrautes musikalisches Terrain in Richtung Shoegaze (und wurden mit Top-Albumplatzierungen in England (1), Irland (1) und Deutschland (5) sowie etlichen Jahresbestenlisten-Erwähnungen belohnt). Mit „Romance“ erfinden sich die Fontaines D.C. mit frischem Label (XL Recordings) und angesagtem Produzenten (Überproduzent James Ford, der zuletzt auch Depeche Mode und die Pet Shop Boys in die Gegenwart geholt hat) noch einmal neu. Als Post-Punker mit urbaner Electronica- Beakbeat- und HipHop-Affinität, als Shoegazer, die auf ihrem letzten Album nur angedeutet haben, in wie viele Richtungen sie sich musikalisch zu entfalten gedenken. Thematisch geht es dabei, der Titel lässt es erahnen, um die Romantik. Aber eben eher im Sinne einer Liebe am Ende der Zeiten, einer wertvollen Flamme im Angesicht des Armageddon. Und wer wissen will, wie das (tolle) vierte Fontaines D.C.-Album klingt: Genau so!